Ich glaub´ ich hab´ schonmal erwähnt, wie planlos Doreen und ich in Neuseeland angekommen sind. Wohin wir reisen wollten, was wir sehen möchten - alle unsere Reisevorbereitungen hätten locker auf einem dieser kleinen gelben Postit-Zettelchen Platz gefunden. Wir wollten spontan sein, uns von Erzählungen anderer inspirieren lassen.
Der Lake Pukaki liegt auf dem Weg von Wanaka nach Christchurch. |
Nur Christchurch stand von vornherein als Etappen-Ziel fest. Jene Stadt an der Ostküste, die so viele Reiseberichte als herrlich englisch, unvergleichlich charmant und wunderbar lebenswert beschreiben. Ich habe den Namen Christchurch allerdings das erste Mal im Herbst 2010 wahrgenommen, als er wegen des starken Erdbebens Schlagzeilen machte. Dass sich am 22. Februar 2011 ein weiteres Beben ereignen würde, haben Doreen und ich kaum mehr wahrgenommen. Wir waren zu diesem Zeitpunkt im Herzen von Argentininen unterwegs, da schwebt so manche Information unverrichteter Dinge an dir vorüber…
Ebenfalls auf dem Weg: Blick auf den Mount Cook, Neuseelands höchster Berg. |
Erdbeben, sowas kenne ich aus Deutschland kaum. Als Kind hat mich mal ein ganz sanftes Beben in der Region München durchgeschüttelt. Habe mir sagen lassen, dass gelegentlich einige Häuser in der Eifel wackeln. Aber sonst? Viele Menschen in Japan, Kalifornien und anderen Regionen auf unserem schönen Planeten leben mit der ständigen Gefahr. Doreen und ich, wir wollten wissen: wie fühlt sich eine Stadt an, die von so einer Naturkatastrophe heimgesucht wurde? Wie wirken sich die Erderschütterungen aus; welche Zerstörungen richten sie an; wie sehr verändert sich das Leben der Bewohner? Sind die Folgen so viele Monate danach überhaupt noch greifbar?
Nach unserer Ankunft in Neuseeland werden wir überraschend bald mit dem Thema Christchurch konfrontiert. Nämlich direkt nach unserer Landung in Queenstown, drei Wochen und rund 1000 Reisekilometer bevor wir die Stadt erreichen möchten. Im Hostel erzählt uns eine Mitbewohnerin, dass sie ihre Reisepläne ändern musste. Weil nämlich ihr Reisebus Christchurch gar nicht mehr anfahre. Von anderen hören wir, das Zentrum von Christchurch sei komplett gesperrt. Es sei unglaublich schwierig, überhaupt eine Unterkunft zu finden. Die Fahrt lohne nicht, weil es sowieso kaum was zu erleben gäbe. Beim Abendessen lernen wir Cathy kennen. Die Engländerin verbringt einige Monate per "Work & Travel" in Neuseeland. Sie finanziert ihre Reise durch Arbeit zwischendurch.
Ihr letzter Arbeitgeber: eine Institution namens "Canterbury Earthquake Recovery Authority", kurz "CERA". CERA soll die Aufräumarbeiten koordinieren; Gelder an Erdbeben-Opfer verteilen; Schäden beseitigen. Klappt offenbar nicht sonderlich gut. Die Stimmung in der Stadt sei schlecht, erzählt Cathy. Es gäbe kaum noch Restaurants und Weggeh-Gelegenheiten. Große Teile des Stadtzentrums seien zerstört und können nicht wieder aufgebaut werden, weil der Boden instabil sei. Offenbar wurden Teile der Stadt buchstäblich auf Sand gebaut. Das rächt sich jetzt. Viele flüchten und suchen woanders ein neues Zuhause. Vielleicht flüchten sie auch vor dem Tod: das Beben hat schließlich etliche Menschenleben gekostet.
In den Außenbezirken von Christ- church zeigen sich kaum Anzeichen der Erdbeben, im Zentrum umso mehr. |
Während Cathy erzählt, versuche ich mich in die Lage der Betroffenen zu versetzen. Wenn ihnen jemand Lichter am Horizont zeigte, Bau- und Zeitpläne zum Beispiel, dann müssten die Menschen doch Hoffnung und Kraft schöpfen können. Aber Cathy winkt ab: "Bei CERA weiß noch keiner, wann der Wiederaufbau beginnt." Sie schildert, dass momentan Räumkommandos Trümmer beseitigen und Statiker die Häuser sezieren. Sie sichten Schäden, begutachen Strukturen, sortieren in Kategorien: Unbeschädigt, leicht beschädigt, renovierungsbedürftig, abrissreif. Das Beben vom Februar ist neun Monate her, trotzdem kann von Sanierung oder gar Aufbau vorerst keine Rede sein? Bin überrascht. Cathys Schilderungen verdichten sich in meinem Kopf zum Bild einer sterbenden Stadt.
Große Teile des Zentrums sind gesperrt. Die meisten Gebäude werden abgerissen. |
Etliche Tage später schaukelt uns unser treuer Nissan-Sunny-Mietwagen von Wanaka aus in Richtung Christchurch. Wir fahren an etlichen Naturwundern vorbei, sehen wie der majestätische Mount Cook den Horizont dominiert. Mir fällt ein Stein von Herzen, als wir die Außenbezirke der Stadt erreichen. Nichts zu spüren von Resignation oder Stadtflucht. Ganz im Gegenteil. Es geht zu wie am Münchner Stachus vor Weihnachten. Der dichte Verkehr auf der zweispurigen Einfallstraße stellt meine Konzentration auf die Probe. Mein erstes Mal im "linken" Berufsverkehr. Auf unserem Campingplatz ein ähnliches Bild. Keine Spur von Leere oder trüber Stimmung. Am nächsten Tag dringen wir mit dem Auto problemlos in das Zentrum der Stadt vor. Wir finden für unseren Nissan einen Parkplatz, und sind bereit für unseren ersten Kontakt mit dem Epizentrum. Hier, im Stadtkern, soll es die stärksten Zerstörungen gegeben haben. Mal sehen.
Der Neuaufbau gelingt nur zögerlich, aber immerhin: nahe der Lichfield- Street entdecken wir dieses provisorische Einkaufszentrum. |
Das Grand-Chancellor-Hotel. Hat aufgrund sogenannter "Bodenverflüssigung" Schieflage, wird abgerissen. |
Jedenfalls, die Sonne scheint. Unser Spaziergang beginnt hoffnungsvoll. In den Außenbezirken haben wir eine Handvoll von Mauern gebrochene Ziegel gesehen. Sonst keine Hinweise darauf, dass hier irgendwann Ungewöhnliches passiert sein könnte. Im Stadtzentrum nähern wir uns einem belebten Platz und entdecken Kurioses: knallbunte Baucontainer, gestapelt als wären sie Teil einer Lego-Stadt. Einige Container sind mit Schaufenstern versehen, andere mit Türen. So entsteht das überraschend elegante Provisorium eines Einkaufszentrums. Komplett mit modernen Straßencafés und Sitzgelegenheiten unter schattenspendenden Bäumen. Dahinter hat ein Kaufhaus geöffnet - na bitte, hier geht ja doch was. Ich genieße die Stimmung. Einige wenige hundert Meter später stoßen wir auf eine Grenze. Ein Maschendrahtzaun verstellt den Weg. Er breitet sich nach links und rechts aus, so weit das Auge reicht. Ich schätze das abgeschirmte Areal ab, schätze es so groß wie die Münchner Altstadt. Ein Verbotsschild warnt vor dem Zutritt zu dem, was hinter dem Zaun liegt. Die ursprüngliche Fußgänger- und Einkaufszone, denke ich mir. Ist die kleine Container-Einkaufs-Stadt ein Ersatz dafür, ist sie das Werk improvisationsbereiter Kaufleute? Der Bereich hinter dem Zaun jedenfalls ist tot. Kein Mensch zu sehen. Alles leer und staubig, Fassaden in Trümmern, Scherben auf dem Boden. Kaufhäuser, Restaurants und Büros sind verlassen und geschlossen. Ich versinke in Gedanken, Doreen holt mich zurück in die Realität: "Jetzt weiß ich, warum alle Hotelzimmer ausgebucht waren. Die großen Hotels sind ja fast alle dicht". Stimmt. Und das in der größten Stadt auf der Südinsel von Neuseeland; mit dem immer noch belebtesten Flughafen, von Auckland abgesehen.
An einem Sicherheits-Zaun ist diese Tafel angebracht. Interessant, welche Gefahren in einem ehemaligen Erdbeben-Gebiet lauern... |
In einiger Entfernung sehe ich einen Godzilla von einem Kran in den Himmel ragen. Von einem Ausleger baumelt die Mutter aller Kneifzangen, ein riesiges Ding. Die dinosauriergleiche Maschine beißt sich in die Wand eines Hochhauses, schneidet durch den Stahlbeton wie eine Schere durch Pappe. Daneben kämpft ein noch höheres Gebäude um sein Gleichgewicht, steht deutlich schief. Ein kurioses Bild. Ich bremse meine Schritte und beobachte das Dach. Einige Menschen scheinen dort zu arbeiten. Plötzlich heben sich Teile der Dachkonstruktion nach oben, baumeln am Arm eines 100 Meter langen Kran-Auslegers, schweben dann nach unten. Später erfahre ich, was da abgetragen wird: das Hotel Grand Chancellor. Der Boden hat nachgegeben, ist instabil geworden. Der Abriss dieses einen Gebäudes alleine kostet 16 Millionen Neuseeland-Dollar, rund 9 Millionen Euro. Hunderten Häusern steht ein ähnliches Schicksal bevor. Während ich die Szene beobachte, macht sich eine Mischung aus Melancholie und Hoffnung in mir breit. Das hier wird noch Jahre dauern.
Einige ehemalige Bewohner des Stadtzentrums scheinen unzufrieden mit dem Tempo des Wiederaufbau... |
Christchurch krallt sich fest in meine Gedankenwelt, auch einen Tag nach unserer Abreise. Erst da wird mir bewusst, dass Neuseeland insgesamt nur vier Millionen Einwohner hat. Da stellt sich schon die Frage, wer all die Schäden bezahlen soll. Viele Hausbesitzer hatten nach dem ersten großen Beben von ihrer Versicherung Geld erhofft. Einige haben Teilbeträge erhalten, viele nicht. Während unserer Weiterreise treffen wir Günter und Elfie. Das Paar aus Österreich lebt seit 25 Jahren in Neuseeland. Sie erzählen, dass alle Unternehmen im Zentrum von Christchurch dichtgemacht haben, oder umgezogen sind. Die Angestellten müssten sehen, wie sie damit klarkommen. Sie dürfen nicht einmal Läden oder Büros aufräumen, weil CERA nur wenigen Menschen Zutritt zum gefährdeten Stadtbereich erlaubt.
...drum verlassen etliche die Stadt und ziehen raus auf´s Land. |
Deshalb geht also alles so langsam vorwärts. Und weil die Versicherungen Schadensgelder zurückhalten. Sie tun das auf Basis einer Klausel, erzählt Günter. Wer Geld beantragt, kriegt es nur ausbezahlt, wenn nach Festlegung der Schadensumme durch die Versicherung 20 Tage lang keine Nachbeben mehr auftreten. "Nachbeben haben wir hier aber ständig", sagt er, "Neuseeland befindet sich nunmal in einer tektonisch aktiven Zone". Deshalb hat er seinen Job als Schreiner aufgeben müssen: "Die Leute in Christchurch haben halt jetzt andere Dinge im Kopf als neue Möbel."
Letzten Endes haben die Tage in Christchurch mein Weltbild wieder ein kleines bisschen verändert. Ich war naiv. Hatte vorher nur oberflächlich drüber nachgedacht, wie die Schadensbewältigung nach einem Katastrophenfall läuft. Hatte immer geglaubt, dass Menschen, die eine bedrohliche Notlage überleben, danach irgendwie Hilfe kriegen. Sozusagen automatisch, durch Nächstenliebe, Spenden oder Regierungen oder was weiß ich. Erst recht in einer so hochindustrialierten Nation wie Neuseeland, gerade nach so großer Medien-Berichterstattung wie im Fall der Erdbeben von Christchurch. In der Realität läuft das offenbar anders. Viele Menschen, die ihr Haus verloren haben, mussten den neuseeländischen Winter auf dem Campingplatz verbringen. Von den Menschen, die Angehörige verloren haben, weiß ich nichts. Ich bin dankbar, dass mir solche Gespräche erspart geblieben ist.
Mir fällt grad kein passendes Abschiedswort ein,
Richard